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Der Tag beginnt noch gut

Ich starte in den neuen Morgen. Der Himmel ist noch eisengrau, der Tag nur ein Gerücht. Mein Arzttermin ist lange geplant. Ich fahre die Strecke nicht zum ersten Mal. Alles ist gut.

Der Blick zur Ankunftzeit im Navi lässt mich kurz nachdenken:
"Hm, ein wenig spät."
Ich komme wahrscheinlich drei Minuten zu spät am Parkplatz an. Das Ziel stimmt.
Macht dann sieben Minuten zu spät in der Arztpraxis, vielleicht auch zehn. Doch dann denke ich mir:
"Kann ja sein. Bestimmt Berufsverkehr."

Und der Zweifel ist vergessen. Noch immer alles gut.

Werte sollten nicht zur Zwangsjacke werden

Es gehört zu meinen Werten, dass ich Zusagen einhalte. Pünktlichkeit ist auch im 21. Jahrhundert noch eine schöne Tugend. Gleichzeitig bin ich an diesem Morgen ein wenig stolz auf meine Lernerfolge. Tugenden sind gut, doch eine mögliche Verspätung von drei bis sieben Minuten soll nicht in einer Angstattacke münden. Überdies lässt sich eine lange Fahrt nicht sicher in Minuten planen. Kontrolle ist nur eine tröstende Illusion. (Fast) keine Angst vor Planungsfehlern mehr.

Für autistische veranlagte sind Pläne eine große Hilfe. Abläufe werden in Strukturen sichtbar. Zusammenhänge werden gut nachvollziehbar, so dass Überraschungen zumindest unwahrscheinlicher sind.

Meine zwei wichtigsten Tools für unterwegs

Zu meinen Tools zur Planung nutze ich die Google Apps geworden. Mit Street View kann ich mir eine Vorstellung von der Umgebung machen, die mich am Zielort erwartet. Die Bilder auf StreetView sind zwar mehrere Jahre alt. Doch viele Details in einer Stadt ändern sich auch nach Jahrzehnten kaum. So habe ich an neuen Ziele bereits erste Orientierungspunkte.

Für die aktuelle Situation während der Fahrt habe ich zusätzlich mit Google Maps sehr verlässliche Echtdaten zur Verkehrslage. Es gibt andere Lösungen, die vermutlich besser zu bedienen sind. Doch hier geht es mir um die Verlässlichkeit, dass die aktuelle Strecke noch zeitlich in den Ablauf passt. Wie gesagt, Überraschungen sind kritisch. Der Druck wird schnell zu groß und kann in Panikattacken enden.

Und das muss heutzutage nicht mehr sein. Bei mir läuft oft das Navi während der Fahrt. Auch bei bekannten Zielen. Wo bilden sich Staus, welche alternativen Strecken wären möglich, und - sagte ich es bereits? -Ankunftszeit in Minuten. Gefühlte Kontrolle, yeah!

Es kommt anders

Und so fahre ich auch in diesem Tag über die Autobahn mit dem Navi als Begleitmusik. Kaum Verkehr auf dem Asphalt. Leichte Bewölkung filtert das Sonnenlicht, gerade richtig. Mein persönliches Highlight der Mobilität.

Und dann sagt mir das Navi in therapeutisch ruhigem Tonfall, dass ich nun die Ausfahrt nehmen möge. Irgendwo nahe des landschaftlich herrlichen Hünxe. Also, nix gegen Hünxe. Nur führt meine heutige Strecke ganz sicher nicht durch Hünxe.

Ich denke, ich konnte die Bedeutung dieses Moments ein wenig rüberbringen.
Absoluter Stress.

Jetzt kommt sehr viel rein. Alle Sinneseindrücke parallel, ich sehe jedes einzelne Blatt am Straßenrand, höre jedes Auto neben mir. Ich versuche rauszufinden, wo in Relation zum Ziel ich bin, warum ich die Autobahn verlassen soll, und, und... Die Therapiestimme des Navi erinnert daran, dass ich mich recht flott der Ausfahrt nähere. Danke. Zu viele Infos.

An guten Tagen kann ich die Unsicherheit ertragen und mich einfach weiter bewegen. Heute ist kein guter Tag.

Die Ausfahrt Hünxe entpuppt sich als Raststätte. Erst dahinter schließt sich die Abfahrt an. Das Schild kennzeichnet also sowohl Raststätte als auch die Abfahrt. Das sind in dem Moment widersprüchliche Symbole für mich. Blockade.

Ich rolle stur weiter. Die Ausfahrt zieht zu meiner Rechten vorbei und ich lande im Rückstau einer Straßensperrung. Therapie-Navi bleibt völlig unbeirrt und kündigt mir den neuen Stau an. Jetzt werde ich 26 Minuten zu spät sein. Es werden 28 Minuten. 30 Minuten.

Warum ich dankbar bin für diesen Tag

Halten wir einfach fest, dass sich zwar alles organisieren lässt, doch es ist extrem anstrengend. Und trotzdem bin ich sehr dankbar für diesen Morgen.

Warum?

Das habe ich auch erst am Abend realisiert. Ich habe das Glück, dass ich mit einem Menschen zusammenlebe, der schon lange mit meinen Eigenarten leben kann. Meine Frau sagte nur:
„Verzeih Dir einfach. Es ist nichts Schlimmes passiert, Du warst nur zu spät.“

Es ist so schön, wenn ich an meine eigenen Ratschläge erinnert werde. Weil ich das anderen so oft sage und dann sehe ich es selbst nicht. Und weil es so wichtig ist, wiederhole ich es hier für Dich und mich nochmal. (Ich weiß, ich wiederhole mich oft. Auch daran arbeite ich, versprochen.).

Es ist OK. Es ist nicht schlimm, wenn ich an meinen ganzen Zielen auch mal scheitere. Wenn ich im Kopf weiß, wie es geht, und es dann selber mal nicht schaffe. Ich werde es wieder versuchen und es wird besser gehen. Ich werde überlegen, was ich - mit angemessenem Aufwand - anders machen kann. Doch ich kann nicht ändern, dass mein Gehirn autistisch funktioniert. Ich werde einige Dinge niemals so gut können wie viele andere Menschen.
Das muss ich auch nicht.

Und Du musst das auch nicht. Du musst nur sein.
Ja, Du solltest versuchen, ein wenig besser zu werden.
Doch der Versuch reicht völlig.

Überfordere Dich nicht. Achte auf Dich und bleib gesund.
Du bist ist OK.
Verzeih Dir Deine Schwächen.


Direkt zum Ende gesprungen? Komm, lass uns ein wenig tratschen. 😁
Hab ich Dir schon von diesem Morgen erzählt, als ich …..